Falten der Zeit


Miriam Moch

aus dem Katalog Jean-François Guiton, Hinters Licht, Videoarbeiten 1982 – 2008



Nur langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit im Ausstellungsraum und so dauert es einige Zeit, bis das rhythmische Aufflackern eines mumifizierten Totenkopfes an der Wand erkennbar wird. Das Bild entzieht sich jedoch unserer näheren Betrachtung; nicht nur, weil es bloß schwach in diffusem Licht aufleuchtet und wir nicht viel mehr als undeutliche Umrisse wahrnehmen. Bevor wir es genauer ansehen können, ist es auch schon wieder verschwunden. Was auf dem ersten Blick wie eine Geister-erscheinung aussieht, hat jedoch einen ganz anderen Sinn, als ahnungslose Besucher zu erschrecken. Vielmehr geht es um die Reflexion des Phänomens Zeit, um das Aufgreifen eines Diskurses, der so alt ist wie die Menschheit selbst. Guiton liefert mit der Installation Die Falten der Zeit keine Antworten auf die Frage, wie Zeit zu begreifen sei, wohl aber löst er die traditionellen Vorstellungen von Zeit auf, indem er in der Installation verschiedene Zeitebenen einander überlagern lässt. Er stellt dem Ende einer zeitlichen Periode durch den Tod den mumifizierten Körper gegenüber, der dem zeitlichen Verfall trotzt und sich damit dem Verständnis einer zirkulierenden Zeitbewegung, einem Kreislauf ewigen Werdens und Vergehens ebenso widersetzt wie der Vorstellung eines linearen Zeitlaufs, der kontinuierlich voranschreitet. Auch das Bild selbst entzieht sich einer Einordnung, es entsteht und vergeht im gleichbleibenden Rhythmus des Stroboskops und erzeugt dadurch einen zeitlichen Stillstand ohne erkennbare Entwicklung. Robert Musil beschrieb diese paradoxe Vorstellung von Zeit recht treffend als „Fluss, der seine Ufer mitführt“. Eine Vorstellung, die seit der Moderne verstärkt Thema der Literatur ist. So tritt die eigentliche Handlung zunehmend in den Hintergrund, um ausführlichen Beschreibungen innerer Vorgänge, Gedanken, Erinnerungen oder auch Exkursen des Erzählers zu weichen, die collagenhaft überlagert werden und die äußere Handlung nicht nur immer wieder unterbrechen, sondern sie nahezu zum Stillstand bringen. Guiton greift in seiner Installation die verschiedenen Vorstellungen von Zeit auf und schafft so eine vielschichtige Arbeit, die Fragen aufwirft, uns letztlich jedoch im Unklaren darüber lässt, lassen muss, wie das Phänomen Zeit zu begreifen ist.

Falten der Zeit

The Wrinkles of Time


Miriam Moch

from the catalog Jean-François Guiton, Hinters Licht, Videoarbeiten 1982 – 2008

translation: Rebecca Van Dyck



One’s eyes only slowly adapt themselves to the darkness of the exhibition space, and so it is a while before the rhythmic flaring up of the image of a mummified skull becomes discernible on the wall. However, the image evades closer examination—not only because it only faintly flashes up in a diffuse light and we perceive scarcely more than vague contours. Before we can take a better look at it, it has already disappeared. What at first glance looks like an apparition, however, has quite a different purpose than to frighten unsuspecting viewers. Rather, it is about reflecting on the phenomenon of time, about taking up a discourse that is as old as humankind itself. With his installation Die Falten der Zeit (The Wrinkles of Time), Guiton does not supply answers to the question of how time is to be grasped, but he does suspend traditional notions of time in that he superimposes different temporal levels. He contrasts the end of an era following death with a mummified body that defies decay, thus resisting both the understanding of the circular motion of time, a cycle of perpetual becoming and dying away, as well as the notion of the linear passage of time that continuously wears on. Th e image also resists classification—it comes and goes in the constant rhythm of a stroboscope, bringing time to a halt without a perceptible development. Robert Musil aptly described this paradoxical concept of time as a “river that carries its own banks along with it.” A notion that since modernity has increasingly been dealt with in literature: the actual plot retreats into the background to give way to detailed descriptions of inner processes, thoughts, memories, or the narrator’s digressions, which are superimposed in a collage-like way and no longer only interrupt the external story line, but nearly hold it up completely. Guiton takes up various notions of time in his installation and in this way creates a complex work that raises questions yet leaves us, has to leave us in the dark about how to comprehend the phenomenon of time.