Fensterln


Elke Kramer

Zur Video-Installation „Fensterln“ von Jean-François Guiton als Teil der Ausstellung

 „Weg vom Fenster“ in der Galerie Kramer 16.11.2019 – 11.01.2020




Jean-François Guiton gehört zu den Künstlern, denen es gelingt, Komplexität zu reduzieren, ohne zu vereinfachen. Er reduziert seine Arbeiten meistens auf wenige Elemente, die dann für die Betrachter*innen Ausgangspunkt sein können, sich mit genauer Beobachtung der Arbeit die verschiedenen Ebenen selbst wieder zu erschließen.

Die Installation „Fensterln“ besteht aus der vierfachen Projektion eines der Galeriefenster an den Wänden und wenn die Sonne scheint, werden auch die beiden realen Fenster mitspielen und den Schatten des Galerie-Schriftzuges auf den Fenstern in den Raum werfen. Der Vorhang vor dem Fenster, der durch einen leichten Sommerwind bewegt wird, bewegt auch den Schatten… Alles ist logisch nachvollziehbar.

Ein großer, geländerartiger Schatten, der in teils heftigen Auf- und Ab-Bewegungen auf den Vorhängen tanzt, gehört nicht zur Umgebung des Galeriefensters. Es sind also zwei Schatten, die sich auf dem Vorhang des Fensters unabhängig voneinander bewegen. Neben dem Schriftzug der Galerie ist es der Schatten eines fremden Geländers, der sich ebenfalls logisch auf und abwiegt. Als Anhaltspunkt für diese Vermutung dienen auch die Geräusche, die zu hören sind. Es scheinen die zu sein, die der fremde Schatten erzeugt, hervorgerufen durch die Haltungen des einen Vorhangs, ebenfalls bewegt von einem Sommerwind. In ihrem Zusammenklang mit den anderen Projektionen entsteht hier eine zufällige Komposition von metallisch klappernden Tönen, die an ferne Geräusche aus der Arbeitswelt oder dem Haushalt erinnern, meistens jedoch fehlt ihnen dafür eine wiederkehrende Rhythmisierung, denn die Abläufe der Projektionen laufen nach dem Zufallsprinzip. 

Der fremde Schatten ist einem Fenster entnommen, das auf einem Monitor an einer Wand erscheint. Er zeigt ein schmales altes Fenster, wie man sie aus Frankreich kennt. Der Schatten eines davorliegenden Geländers ist der, der in starker Vergrößerung in die Projektion der Galeriefenster gesetzt wurde. Die Vergrößerung lässt die aufgeplatzte Farbe seines Anstrichs wie kleine Wesen auf einer Brücke wirken. 

In der Kunstgeschichte war das Fenster immer mehr als nur eine Öffnung in der Mauer. Es war immer wichtig, was durch das Fenster zu sehen war. Im Mittelalter, als die Kunst fast ausschließlich religiös motiviert war, sah man durch Fensteröffnungen in den Himmel, in dem sich oft Engel tummelten. Nach Pieter Breughels Gemälde um 1562 entstandenes Gemälde „Der Triumph des Todes“, in dem er vermutlich auch die Schrecken einer Pestepidemie bearbeitet hat, sind seine Ausblicke aus Fenstern vielfach leer geblieben: Kein Gott nirgends könnte man vermuten. Das Fenster blieb danach lange eine Metapher für den Blick auf die Welt. Mit der Moderne und der Entwicklung der Technik drang jedoch auch die Welt durch das Fenster herein in die Wohnungen. (1911 malt Umberto Boccioni das Bild „Der Lärm der Straße dringt ins Haus“.)

Heute hat das Fenster als Blick auf die Welt ausgedient, es ist durch den Bildschirm ersetzt worden, wie Guiton sagt. Zunächst durch die Kinoleinwand (Wochenschau), dann durch das TV (Tagesschau) und schließlich durch das Internet mit seinen sozialen Medien, die über große oder kleine Screens uns zu jeder Zeit über den Zustand der Welt zu informieren scheinen - und die damit zugleich zu einer der größten Verunsicherungen der Zeit geführt haben, nämlich zu der Frage, was davon real ist, d.h. was wahr ist und was davon uns beispielsweise durch sog. Deepfakes mit nicht wahrnehmbarer technischer Perfektion als Wahrheit vorgegaukelt wird. 

Auch die Fenster der Installation sind nur das Produkt einer Lichtprojektion. Ihre Öffnungen zeigen weder einen realen noch einen fiktiven Blick nach Draußen, denn sie sind alle verhängt. Sie zeigen nichts und weisen damit Fragen nach dem wahrhaftigen Blick auf die Welt zurück. Man ahnt, dass diese sich über das Medium der, wie immer technisch gearteten Projektion nicht werden beantworten lassen.

Dass es bei „Fensterln“ einen weiteren möglichen Erzählstrang gibt, zeigt die Tatsache, dass die Schattenschrift des Galerie Namens lesbar ist. Direkt wiedergegeben würde er spiegelverkehrt erscheinen. Seitenverkehrt an die Wand projiziert ist der Schriftzug wieder lesbar und das soll er auch sein. 

Es eröffnet sich damit die Möglichkeit einer weiteren Erzählebene, die die Rolle der Kunst und den Kunstmarkt in den Blick nimmt. Angelehnt an den Titel „Fensterln“, also zu seiner Geliebten durch das Fenster ins Zimmer einstiegen, weist der Schriftzug der Galerie auch darauf hin, dass es sich nicht um einen privaten, sondern um einen öffentlichen Raum handelt, der für Künstler*innen immer noch ein wichtiger Schritt in die Öffentlichkeit und den Kunstmarkt bedeutet und der manchmal auch die einzige Möglichkeit bietet, die eigene Kunst zu zeigen.

Bei „Fensterln“ scheint es so, als versuchte ein riesiger Schatten ans Fenster der Galerie zu klopfen und um Einlass zu bitten. Als würde ein „Bild“ in der Ausstellung mittels seines Schattens versuchen, die Ausstellung zu übernehmen. Wenn man sich die Fenster ansieht, war die Übernahme durchaus erfolgreich: in jedem anderen „Bild“ dieser Ausstellung taucht sein Schatten auf. Ein fremder Schatten von einem anderen Fenster, der sich unter die Schatten der Galeriefenster gemischt hat, dort ein sehr nachvollziehbares Dasein führt und seinerseits die Fantasie zu neuen Erzählungen anregt…


Elke Kramer