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Fluchtweg

Ingo Clauß 

aus dem Katalog Jean-François Guiton, Hinters Licht, Videoarbeiten 1982 – 2008

 

 

 

Die wandfüllende Videoprojektion Fluchtweg zeigt den virtuellen Gang durch einen dunklen Flur. Er führt an schmalen Fenstern vorbei, durch die so wenig Licht einfällt, dass selbst der Fußboden kaum beleuchtet wird. Unentwegt ziehen links und rechts die immer gleichen Fenster vorüber. Sie blitzen stroboskopartig auf, blenden und überblenden sich gegenseitig, bis sie sich zu durchgängigen Lichtbändern aufaddieren. Die unheimliche Geräuschkulisse und das aufflackernde Licht entfalten eine gleichsam körperlich zu spürende Sogwirkung. Wie in einem Albtraum wird der Blick immer weiter in einen nicht enden wollenden Gang getrieben. Der rettende Weg ins Freie wird jedoch nie erreicht. Von Zeit zu Zeit verschieben sich die Fenster wie flüchtige Lichterscheinungen nach allen Seiten, bis der Flur in einem vielschichtigen Raumgefüge zu verschwinden droht. Die perfekte Simulation wird in diesem Moment als eine besondere Form von Ent-Täuschung erfahrbar. Ist doch der Ausstellungsraum, den Guiton für die Videoprojektion eines „Fluchtwegs“ ausgewählt hat, eine Sackgasse, die es im Notfall unbedingt zu meiden gilt. Nicht zufällig erinnert die Arbeit an die drei-dimensionalen Räume eines Computerspiels. Simulierte Bildwelten, wie sie in medientheoretischen Schriften unter dem Begriff des „Simulacrums“ diskutiert werden, überlagern mittlerweile wie selbstverständlich unsere Wahrnehmung der Welt. Sie generieren dabei zusehends ihre eigenen Wirklichkeiten, in denen wir bisweilen Gefahr laufen, die Orientierung zu verlieren. Die „Flucht“ in computergenerierte Bildwelten wird so zu einem hoffnungslosen Irrlauf. Guiton benutzt hier verschiedene Elemente seiner Arbeit Orientirrung von 2004. Dies ist kein ungewöhnlicher Vorgang. In seinem gesamten Œuvre greift er häufig Aspekte älterer Arbeiten auf, um sie in veränderter Form neu zu befragen. In diesem Prozess der Transformation werden Einsichten ermöglicht, die nicht mehr auf eine einzelne Wahrheit aus sind, sondern den Zweifel als erkenntnisstiftende Größe ernst nehmen. So führt Orientirrung durch ein komplexes Labyrinth, in dem noch vereinzelt Gegenstände und auch Personen anzutreffen sind. Fluchtweg ist dagegen vollkommen verlassen und intensiviert auf diese Weise ein unbestimmtes Gefühl medialer Ausweglosigkeit.

Fluchtweg

 

Ingo Clauß 

from the catalog Jean-François Guiton, Hinters Licht, Videoarbeiten 1982 – 2008 

translation: Rebecca Van Dyck 

 

 

The wall-consuming video projection Fluchtweg (Escape Route) features a virtual walk through a dark corridor. It leads past narrow windows through which so little light falls that even the floor is scarcely lit. The same windows undeviatingly pass by to the left and to the right. They intermittently fl ash up, blending and cross-fading, until they add up to produce continuous ribbons of light. The uncanny background noise and the flashing light develop, so to speak, a physically perceptible pulling effect. As in a nightmare, oneʼs gaze is forced into an apparently endless corridor. However, one never escapes out into the open. Like fleeting occurrences of light, the windows occasionally shift to all sides until the corridor threatens to disappear in a multilayered spatial structure. At this moment, the perfect simulation is experienced as a special form of disappointment: the exhibition space that Guiton chose to present his video projection of an “escape route” is a dead end that has to be avoided at all costs in case of an emergency. It is no coincidence that the work is reminiscent of the three- dimensional spaces of a computer game. In the meantime, simulated visual worlds, which in media theory are referred to as simulacrums, unquestionably overlie our perception of the world. They are increasingly engendering their own realities, in which we sometimes run the risk of losing our orientation. The “escape” into computer- generated visual worlds becomes a hopeless odyssey. In Fluchtweg (Escape Route), Guiton uses four different elements from his work Orientirrung (Orienterring) from 2004. This is not an unusual occurrence. In his oeuvre, he frequently takes up aspects. At this moment, the perfect simulation is of older works and queries them again in a modified form. This process of transformation enables gaining insight that is no longer out for a single truth, but rather takes doubt seriously as a dimension that creates cognition. Orientirrung (Orienterring) leads us through a complex labyrinth in which we encounter isolated objects as well as persons. In contrast, Fluchtweg (Escape Route) is completely deserted and in this way intensifies an indistinct feeling of media-related hopelessness..