Der Rattenfänger
Peter Friese
in Katalog Jean-François Guiton, Hinters Licht, Videoarbeiten 1982 – 2008
Beim Betreten des abgedunkelten Raumes entdeckt man eine große Anzahl auf dem Boden liegender ovaler Lautsprecher, die mit dünnen Kabeln verbunden sind und in einem gewundenen Strom in eine Rich- tung streben. Was diese Kabelanschlüsse augenfällig macht, ist indessen schon beim Betreten des Raumes zu hören: Ein regel- rechter Klangteppich aus dem Piepsen vieler kleiner Nagetiere, das permanente Trappeln tausender kleiner Pfoten und leise Schleifgeräusche. Die Assoziation „Ratten“ drängt sich eher schon intuitiv als im Sinne einer gedanklichen Folgerung auf. Doch das ist noch nicht alles: Aus einem Bereich hinter einem Wandabschnitt, von dort, wohin dieser virtuelle Rattenstrom anscheinend hinstrebt, kommt ein dumpfes Grollen, begleitet von einem Fauchen und Gurgeln. Die grausige Entdeckung: Die technischen Ratten streben alle einer großen Videoprojektion zu, die auf den ersten Blick an einen ovalen oder rhomboiden Schlund erinnert. Rhythmisch öffnet und schließt sich hier ein monströses Loch, dröhnt, dampft, zischt und scheint sich den Rattenstrom in pumpenden konvulsivischen Schluckbewegungen einzuverleiben. Bald drängt sich die Assoziation eines eher angst- als lustbesetzten weiblichen Geschlechts auf, welches im Freud’schen Sinne als kastrierende (dentata) und im Sinne von Georges Devereux als angst- und lustbesetzte mythische Vulva empfunden werden kann. Guiton bezieht sich zudem auf das (deutsche) Märchen vom Rattenfänger von Hameln, wonach ein mysteriöser Fremder die Stadt von einer schlimmen Rattenplage befreite und schließlich, als man ihn dafür nicht entlohnen wollte, alle Kinder, genau wie er es vorher mit den Ratten gemacht hatte, mit dem Klang einer Flöte aus dem Ort lockte und in einer Höhle für immer verschwinden ließ. Die Tatsache, dass in den Arbeiten Guitons immer wieder uralte Topoi, Mythen, archaische Bilder, Symbole, Angst-, Lust- und Todesvisionen auftauchen, zeugt nicht etwa davon, dass er hier Versuche unternähme, vergangene, längst bedeutungslos gewordene mysteriöse Zeichen auszugraben und in anachronistischer Form zu reaktivieren, sondern das Gegenteil ist der Fall: Diese Zeichen und Bilder gehören zu einem seit Jahrtausenden tradierten, sich dabei permanent wandelnden Fundus, welcher auch im heutigen Medienzeitalter noch immer Bestand hat.