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Stabat Mater

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Dr. Katerina Vatsella

in Katalog Hinters Licht, Jean-François Guiton, Die Weserbug 2008

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Das Stabat mater (nach dem Gedichtanfang: Stabat mater dolorosa, lat.: „Es stand die Mutter schmerzerfüllt“) ist ein gregorianisches Gedicht aus dem 13. Jahrhundert, das die Gottesmutter in ihrem Schmerz um den Gekreuzigten besingt. Das Thema der schmerzerfüllten Gottesmutter, der „mater dolorosa“, die am Kreuz um ihren Sohn trauert, stellt Jean-François Guiton in einer minimalistisch reduzierten Videoarbeit dar. Gerade wegen ihrer sehr zurückhaltenden Bildsprache ist diese Arbeit für verschiedene Assoziationen offen. Man blickt zunächst bloß auf ein weißes Tuchbündel am unteren Bildrand, aus dem sich langsam im Zeitlupentempo eine – vermutlich weibliche – Gestalt aus einer gebückten Haltung auf- richtet. Sie kehrt uns den Rücken und bleibt verhüllt. Zögernd bewegt sie die linke Hand nach oben und dann wieder nach unten und bückt sich, bis sie schließlich von Neuem in sich zusammensinkt und schließlich wieder nur ein lebloses Tuch sichtbar bleibt. Das Bild bleibt stumm, ohne Ton. In einem Loop von elf Minuten wird auf sehr abstrakte Art und Weise eine hoffnungslose, beklemmende Stimmung erzeugt. So lässt dieses Bild zwar durchaus an die verzweifelte Maria am Fuß des Kreuzes denken, die zögert, ihren am Kreuz hängenden toten Sohn zu berühren. Dies geschieht aber ohne äußere Hin weise auf den religiösen Zusammenhang des Motivs. Wir sehen hier weder das Gesicht Marias noch den gekreuzigten Körper Christi, nicht einmal andeutungsweise. Losgelöst vom ursprünglichen religiösen Kontext wird hier der seelische Schmerz des Verlustes thematisiert, reduziert auf wenige Gesten quälender Bewegungen des Sich-Krümmens, Aufrichtens und wieder In-sich-Zusammenfallens. Auch unabhängig von ihrem Bezug zur „mater dolorosa“ sind diese Gesten als Ausdruck tiefen Schmerzes allgemein verständlich. Mit einer solchen Darstellung, wie sie Jean-François Guiton geschaffen hat, kann das Leid der Muttergottes auf jede leidende Frau – Mutter, Tochter, Schwester, Geliebte – übertragen werden, die in einer sorgen vollen, verzweifelten Situation ist. In der Verallgemeinerung wird dieses laut lose, verzögernd bewegte Bild zum Denkmal ihres stummen Schmerzes.

Stabat Mater

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Dr. Katerina Vatsella

Translation: Rebecca Van Dyck

in catalogue Hinters Licht, Jean-François Guiton, Die Weserbug 2008

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Stabat mater (from the beginning of the hymn: Stabat mater dolorosa, Latin for “The grieving mother stood“) is a Gregorian hymn from the thirteenth century that meditates on the suffering of Mary, Jesus Christ’s mother, during his crucifixion. Jean-François Guiton depicts the theme of the grieving mother, the mater dolorosa, in a minimalistically reduced work on video. It is precisely because of its very reserved pictorial language that this work is open to various associations. One initially looks at a bundle of white cloth at the lower edge of the image, from which an apparently female figure gradually straightens herself up out of a bent position in slow motion. She turns her back to us and remains veiled. She tentatively moves her left hand upward and then down again and then bends over until she finally sinks down again into herself and becomes a lifeless cloth. The image remains silent. In an eleven-minute loop, a hopeless, oppressive atmosphere is created in a very abstract way. This image by all means calls to mind the desperate Mary standing at the foot of the cross, hesitating to touch her dead son hanging on it. However, this occurs without any external reference to the religious context of the motif. We see neither Mary’s face nor that of the crucified body of Christ, not even suggestively. Dissociated from its original religious context, the emotional sorrow of loss is thematized, reduced to only a few agonizing gestures of doubling over, straightening up, and collapsing. Even independent of the reference to mater dolorosa, these gestures are generally understood as the expression of deep sorrow. Jean-François Guiton’s depiction allows transferring the grief of the Virgin Mother to any lamenting woman—mother, daughter, sister, lover— in a sorrowful, desperate situation. In its generalization, this silent, hesitantly moving image becomes a monument to her silent pain.