Le vol du regard


Peter Friese

in Katalog Jean-François Guiton, Hinters Licht, Videoarbeiten 1982 – 2008





Bei der interaktiven Arbeit Le vol du regard steht mitten im Raum ein Vogelhaus auf einer Stange, wie man es von Gärten und Parkanlagen her kennt: die Nachempfindung eines Giebelhauses mit einem kleinen runden Schlupfloch für virtuelle Vögel. Wegen seiner Ausrichtung auf die Kopfhöhe eines potenziellen Betrachters ist es aber zugleich ein Guckloch, das zum Hineinsehen einlädt. In einem kaleidoskopartigen Raster glaubt man im Innern des Kastens die schemenhaften Schatten verschiedener Vögel übereinander- und durcheinanderfliegen zu sehen, ein permanentes Flattern zu erkennen, das jedoch nur sehr leise zu vernehmen ist. Doch sobald jemand die Einladung annimmt, wie ein Voyeur durch das Loch des Vogelhäuschens zu schauen, um die virtuellen Vögel näher zu betrachten, verschwinden diese schlagartig und an ihre Stelle tritt eine wilde Klangkulisse aus Vogelgezwitscher und Flügelgeflatter, gleichsam die akustische Außenwelt der nur von gedämpften Lauten getragenen Innenwelt. Das Innere des Vogelkastens, die Bildebene, entzieht sich somit dem neugierigen Blick des Betrachters, um dem Klang zu weichen, an den sich wie von selbst eigene Vorstellungsbilder knüpfen. Die besondere Bedeutung des Blicks klingt indes schon bei der Titelwahl Le vol du regard an, was in der französischen Sprache sowohl „Blickfang“, „Raub des Blickes“ als auch „Flug des Blickes“ bedeuten kann. Der Betrachter wird zwar zum neugierigen Sehen verführt, doch wird er erst kraft seiner eigenen Entscheidung zum Voyeur. Dies wird ihm spätestens bewusst, wenn beim Blick durch das Loch die Bilder verschwinden. Der Zweifel an der Eingeschränktheit des eigenen voyeuristischen Blickes, das Bewusstwerden dieser auf einen Punkt fixierten Leidenschaft wird hier Bestand- teil des Sehprozesses und führt zu einer Erweiterung der Einsichten und Erfahrungen, wie sie im gewöhnlichen Voyeurismus des Alltags praktisch nicht möglich sind Guiton macht den Betrachter hier nicht zum Protagonisten einer an sich überflüssigen Versuchsanordnung, sondern definiert ihn als ein souverän über seine Erfahrungen nachdenkendes Subjekt, das sich der Rolle des Voyeurs bewusst wird und sie reflektiert.

Le vol du regard


Peter Friese

in catalog Jean-François Guiton, Hinters Licht, Videoarbeiten 1982 – 2008

translation: Rebecca Van Dyck


In the middle of the space in which the interactive work Le vol du regard is being presented, there is a birdhouse on a pole, like the kind one finds in gardens and parks: the miniature reproduction of a gabled house with a small round hole for virtual birds. Because it is positioned at the height of the potential viewer’s head, it is at the same time a peephole that invites being looked through. In a kaleidoscope-like grid pattern inside the box, one believes to be viewing dim shadows of various birds flying over and pell-mell past each other, to recognize a permanent fluttering that is, however, barely audible. Yet as soon as one accepts the invitation of looking, like a voyeur, through the hole in the birdhouse in order to more closely contemplate the birds, they suddenly disappear and are replaced by a wild wall of sounds consisting of chirping and the flutter of wings, the acoustic outer world, so to speak, of an inner world sustained only by muted sounds. Thus the interior of the birdhouse, the image level, eludes the curious gaze of the viewer in order to give way to the sound, which one almost automatically connects to one’s own images. The special meaning of the gaze is already suggested in the title of the work, Le vol du regard, which in French can mean “eye-catcher,” “robbing from view,” or a “fleeting glance.” The viewer is lured into looking through the peephole, but first becomes a voyeur by virtue of his or her own decision. This becomes clear at the latest when while looking through the hole, the images disappear. Doubt about the limitedness of one’s own voyeuristic gaze, the awareness of this passion directed toward a fixed point, becomes part of the seeing process and leads to an expansion of one’s insight and experience, which is practically impossible in customary voyeurism in everyday life. Guiton does not turn the viewer into the protagonist in what is a superfluous test arrangement, but defines him or her as a subject who confidently ponders his or her experience, who is aware of the role of voyeur and reflects on it.