Von Medien und Mythen

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Peter Friese

in Katalog “Hésitations des sens”, C.A.C de Basse- Normandie, Hérouville-Saint-Clair, 1998

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Jean-François Gutions künstlerischer Umgang mit Video und den damit verbundenen Technologien unterscheidet sich in vieler Hinsicht wohltuend von vielem, was andere Medienkünstler produzieren und inszenieren. Seine aus wenigen Elementen bestehenden aber dennoch raumfüllenden Arbeiten könnten auf den ersten Blick als minimalistisch oder konzeptuell bezeichnet werden, wäre in ihnen nicht auch immer eine narrative, literarische, ja bisweilen mythische Ebene auszumachen, ein “Gehalt” also, der sich in besonderer Weise mit der hier zum Einsatz kommenden Technik ergänzt und überlagert. Einerseits wirken diese Arbeiten als suggestive Bilder und Klänge unmittelbar auf unser bildhaftes, ständig zu Verknüpfungen und Analogiebildungen bereites Vorstellungsvermögen, ja auf unsere körperlich-räumliche Wahrnehmung insgesamt.

Andererseits wird gerade durch die Evidenz und Transparenz ihrer Anwesenheit im Raum, durch die klare Anordnung ihrer technischen Elemente, die Mitteilbarkeit und Inszeniertest des ganzen Unternehmens bewußt. Somit sind Gutions Arbeiten narrativ, literarisch, mythisch und selbstreferentiell zugleich, sie erzählen uns Geschichten, berichten aber gleichzeitig von der Tatsache des Erzählers im Rahmen ihrer medialen Vermittlung, und verweisen damit auch immer auf die Medien, deren Hardware hier auch im skulpturalen Sinne zum Einsatz gelangt und so zum Thema der Arbeit werden kann. 

Die 1990 entstandene Arbeit Le Fardeau zum Beispiel besteht aus einer riesigen Stoffbahn aus Leinen, die wie ein großes Segel oder eine überdimensionale Hängematte von einer Wand zur anderen reicht und in deren herabhängender Mitte ein Monitor mit dem Bildschirm nach oben liegt. Das Gewicht dieser sprichwörtlichen Hardware spannt das große weiche Laken und gibt ihm so eine Form, welche nur unter den Bedingungen dieser Belastung zustande kommen konnte. Deutlich zeichnet sich auf der Unterseite des Stoffes die runde Rückseite des Gerätes ab und das Tuch wirft durch die Spannung straffe nach oben verlaufende Falten. So gesehen haben wir es hier durchaus mit einem minimalistisch anmutenden Arrangement zu tun. Doch der Monitor ruht nicht nur in seiner durch sein Eigengewicht geschaffenen Vertiefung, sondern strahlt nach oben das Bild eines Ausschnittes eben dieser Stoffbahn aus, als ginge es darum, das Stück Stoff, das hier verdeckt wird, wie durch einen videotechnisch verstärkten Leuchtertisch oben wieder sichtbar werden zu lassen. Bei genauem Hinsehen entdeckt man jedoch Bewegung in diesem (virtuellen) Tuchausschnitt. Erst sieht es aus wie eine zarte Welle, vielleicht verursacht durch einen Luftstrom - nur ein zartes Wehen, das das Video-Gewebe verändert. Dann scheint es wiederum , als berühre jemand den weichen Stoff von unten, als lebte etwas hinter, bzw. unter diesem virtuellen Laken, dessen Gestalt man allerdings nicht konkret auszumachen in der Lage ist. Das Bild dieser in sich permanent bewegten Stoffbahn auf dem Monitor ist also einerseits eine reflektierte Tautologie- als ginge es dem Künstler lediglich darum, ein Stück Realität 1:1 durch Video zu substituieren. Andererseits überwindet der virtuelle Bildschirm-Stoff ja mühelos die durch die reale Last des Monitorgehäuses erzeugte Spannung, ja dieses Bild transzendiert gleichsam die Evidenz des Tragens, Lasten und Hängens, somit die im Aufbau der Arbeit verdeutlichte physikalische Gesetzmäßigkeit. Es ist die Veranschaulichung einer Paradoxie, zugleich aber auch ein raumfüllendes Denkbild, bei dessen Zusammengehen und Überlagern von Software und Hardware eine für Guiton typische Selbstevidenz garantiert bleibt und den Betrachter zur Meditation einlädt. Die Offenheit der Beziehung der Elemente untereinander, ein durchaus empfindsamerer Schwebezustand, machen den besonderen ästhetischen Reiz dieser ruhigen Raumarbeit aus. Der hier souverän veranschaulichten Unentschiedenheit von Ursache, Wirkung und physikalischer Regel ging indessen eine eindeutige künstlerische Entscheidung voraus, welche im Falle von Le Fardeau notwendigerweise in dieser minimaoistischen, faktisch nur aus einer Videoeinheit und einem großen Tuch bestehenden Installation gipfelte. 

Gutions Arbeiten erzählen, ohne geschwätzig zu sein, sie beeindrucken, ohne den Betrachter gleich mit wandfüllenden, schrankartigen oder pyramidalen Hochstapeleien von flimmernden Monitoren erschlagen zu wollen. Sie benutzen vorhandene oder auch gerade erst entwickelte Technologien nur, um Erfahrungen, Einsichten und Fragen zu stimulieren, die außerhalb dieser künstlerischen Konstellationen so nicht denkbar gewesen wären. Die Entscheidung also, eine konkrete Ton- oder Bildfolge, eine bestimmte Apparatur und den mit ihr verbundenen technischen Effekt zum Einsatz zu bringen ist immer Resultat einer genauen Abwägung, Ausdruck einer inneren Notwendigkeit innerhalb des künstlerischen Prozesses und niemals Selbstzweck im Sinne einer Vorstellung, nach der die Kunst, nur um möglichst gegenwärtig zu sein, sich unbedingt der allerneuesten Technologien zu bedienen hätte.

In der 1992 entstandenen Arbeit La Ronde schafft Guiton einen durchaus mythisch zu nennenden abgedunkelten Raum, der nur durch 4 Monitore und eine ausgeklügelte kreisförmig rotierende Diaprojektion eindrucksvoll beleuchtet und dominiert wird. Die Monitore sind in der Mitte des Raumes mit ihren Bildschirmen einander so zugeordnet, daß sich ein kubischer, nur von oben einsehbarer Bild-Raum ergibt. Auf dem Boden dieses Zwischenraumes liegt ein quadratischer Spiegel, in dem sich die 4 Bildschirme scheinbar unendlich fortlaufend spiegeln und so einen langen, sich nach unten verjüngenden Schacht bilden. In diesem virtuellen Spiegelschacht zeigt Guiton in Permanenz Videoaufnahmen von flüssiger, rotblühender Lava, welche hier langsam aber um so bedrohlicher nach unten zu fließen scheint. Dröhnende Geräusche, welche aus den Lautsprechern der Monitore kommen, tragen zur Intensität dieses Bildes bei: Es klingt tatsächlich wie das Grollen eines Erdbebens, wie das Rumoren, Prasseln und Fauchen in einem Vulkanschacht. Guiton nutzt hier konsequent die vorhandene Hardware, also die ohnehin skulptural wirkenden Monitorgehäuse, um mit einem an sich simplen, aber höchst effektiven Spiegeltrick einen künstlichen Vulkanschacht zu schaffen. Die vier schwarzen Blöcke kombiniert mit der Kraft des hellrot leuchtenden Feuers und das donnernde Grollen aus den Lautsprechern reichen aus, um mit technischen Mitteln die Vorstellung einer gewaltigen Naturkraft zu inszenieren.

Hier soll nicht davon die Rede sein, Guiton manipuliere die Betrachter, er beeindrucke sie mit dramatischen Hell-Dunkel-Effekten und einem mysteriösen Soundtrack, wie wir ihn von manchen Kinofilmen her kennen. Dagegen spricht von vornherein die Evidenz des technischen Arrangements, die zum Thema der Arbeit gehörende Mediatisierung und Substituierung eines Vulkanschachtes durch Video. Die Erhabenheit eines (faktisch denkbaren) Naturphänomens überlagert sich hier mit der vergleichsweise lächerlichen technischen Ersatzkonstruktion eines Mini-Vulkans. Und das sieht, spürt und reflektieren in diesem Falle sowohl der Künstler, als auch der Betrachter.

Aber das ist noch nicht alles: über diesem leuchtenden Video-Schlot und damit über den Köpfen der Betrachter dreht sich ein makabrer Tanz aus einer anscheinend nicht enden wollenden Reihe von Totenköpfen und mumifizierten Menschenschädeln. Guiton arbeitet hier mit einer Diaprojektion, welche durch einen rotierenden Spiegel in eine Kreisbewegung versetzt wird und sich so über die gesamten Wände des Raumes bewegt. Die Motive dieses Totentanzes stammen aus Palermo, wo im Convento di Cappuccino noch bis ins 19. Jahrhundert hinein an einer merkwürdigen Bestattungsform festgehalten wurde. Die Toten wurden über speziellen Öfen getrocknet und in aufrechter Haltung in Reih’ und Glied mehr ausgestellt als beigesetzt. Besucher flanieren noch heute dicht an den 

Zu dürren Kadavern mit grotesken Fratzen erstarrten Toten vorbei. Guiton läßt nun Nahaufnahmen der bizarren, anscheinend grinsenden Gesichter über den Köpfen der Betrachter kreisen. In der Verbindung beider Elemente von La Ronde, im Zusammenwirken des projizierten Totentanzes mit dem Video-Vulkan entsteht ein intensives Gesamtbild, das mühelos mit mythischen Vorstellungen aus unserem kulturellen Fundus korrespondieren kann: Tod und Verdammnis, Hölle und Fegefeuer, Memento Mori, apokalyptische Bilder des jüngsten Gerichtes, welche einst entstanden sind, um die Diesseitigkeit des Lebens an eine bildhafte Vorstellung eines Jenseits anzubinden. Wenn Mythos eine urheberunabhängige Erzählung ist, die sich in Bildern, Vorstellungen und Geschichten in einer gewissen Eigendynamik fortsetzt, dann ist Guiton ein Mythenerzähler, einer, der etwas verbindlich und auf ganz spezielle Weise weitertradiert, das schon lange existiert. Eigentlich eine uralte Aufgabe der bildenden Kunst und in den Augen vieler ein Anachronismus. Guiton greift diesen Wesenszug “religiöser” Kunst (re-ligere = Rückbindungen schaffen) auf, um sie ausgerechnet als elektronische Visionen am Ende des 20. Jahrhunderts konkret werden zu lassen. Er gebärdet sich hier als souveräner Vermittler von kollektiven Angst- und Traumbildern, als Mythospoet im Zeitalter neuester Medientechnologien und beweist förmlich die Existenz und die noch immer vorhandene Brisanz solcher Vorstellungen, welche sich im Sinne einer “Faszinationsgeschichte” entwickeln konnten. Auch und gerade weil sich der Tod immer schon als das Fernste , das absolut Andere, eigentlich Nicht-Darstellbare erwiesen hat, nur als Diskurs seiner permanenten Um-Schreibung in unserem Denken existieren kann, überrascht und legitimiert sich eine solche Substitution des eigentlich durch Worte und Bilder nicht Einholbaren durch ihre suggestive Kraft und raumfüllende Energie. Man könnte auch sagen: Die Videoinstallation La Ronde bezieht ihre eigentliche Stärke und ihre Gültigkeit aus ihrem veranschaulichten Scheitern an diesem Anderen; eben weil sie die Unmöglichkeit einer Erfassung des Todes , in sich selbst zur Darstellung zu bringen vermag, sozusagen in sich “hineingebildet” hat. 

Natürlich ist hier ein Betrachter vonnöten, der in der Lage ist, sich auf ein solches Angebot, ein solches Experiment mit seinen Sinnen und seinem Verstand einzulassen, der das Zusammenwirken dieser mysteriösen Bilder und dramatischen Klänge nicht einfach nur als intensives synthetisches Erlebnis mit hohem Unterhaltungswert abhakt, sondern der hier die Chance zu einer ästhetischen Auseinandersetzung zu nutzen weiß. Wir sehen, hören, erleben und erfahren diese Klänge und Bilder aufs Intensivste und sind doch immer bereit, sie als gemachte, konstruierte und arrangierte zu reflektieren und anzuzweifeln. Wir sind als Subjekte durchaus in der Lage, über die Bedingungen der Möglichkeiten einer derartigen ambivalenten Erfahrung nachzudenken. Dazu gehört auch die Möglichkeit zu zweifeln, die Gültigkeit eines Bildes im kulturellen Kontext kritisch zu hinterfragen. Dies sind durchaus Indizien einer ästhetischen Auseinandersetzung, welche kaum noch etwas mit kulinarisch-sinnlichem Schwelgen allein zu tun hat und die in Gutions Werk regelrecht angelegt ist.

Zu ebenso selbstreflexiver Betrachtung verführt auch die interaktive Arbeit Le Vol du Regard aus dem Jahr 1977. Hier Handelt es sich um einen Raum, auf dessen Wänden, flächendeckend die Videoprojektion einer dichten tropischen Vegetation zu sehen ist. Hörbar ist ein regelrechter Klangteppich aus verschiedenen Vogelstimmen. Piepsende, kreischende, schnarrende und glucksende Laute vermitteln hier eine Art “ganzheitliches” Dschungelerlebnis, das natürlich im Sinne Gutions durch die Reflektierbarkeit seiner technischen Vermittlung relativiert und zugleich als Videoinstallation bestätigt wird. Im Laufe von 15 Minuten ändert sich das Grün des Dschungels, es verblaßt, als hätte jemand am Farbregler eines Fernsehgerätes gedreht, um schließlich wieder neu zu erblühen. Mitten im Raum steht ein Vogelhaus auf einer Stange, wie man es von Gärten und Parkanlagen her kennt: die Nachempfindung eines Giebelhauses mit einem kleinen runden Schlupfloch für virtuelle Vögel auf der vorderen Wand. Wegen seiner Ausrichtung auf die Kopfhöhe eines potentiellen Betrachters ist es aber zugleich ein Guckloch, das zum Hineinsehen einlädt. In der Tat vermittelt sich ein Zusammenhang zwischen der eindrucksvollen Dschungelkulisse, den raumfüllenden Vogelstimmen und diesem Vogelhaus. Doch sobald jemand die hier konkretisierte Einladung annimmt, wie ein Voyeur durch das Loch zu schauen, sobald sein Kopf in die Nähe des Guckloches kommt, verstummt schlagartig die wilde Klangkulisse, herrscht Stille im Raum. Im Kasten selbst sind wiederum Videobilder zu sehen - allerdings in Kleinformat. In einem kaleidoskopartigen Raster entdeckt man die schemenhaften Schatten verschiedener Vögel übereinander- und durcheinanderfliegen und hört jetzt, weil ja der große Zwitscherklang abgeschaltet wurde, ein permanentes Flattern , das ebenfalls direkt aus dem Inneren des Kastens kommt, gleichsam die akustische Innenwelt der gerade verstummten Außenwelt. Der Vogelkasten offenbart also etwas, das nur unter Ausschluss des Außenraumes sichtbar und vernehmbar ist. Dieser Mechanismus funktioniert auch dann, wenn sich andere Besucher im Raum befinden. Doch es gibt in diesem inneren Videobild noch etwas zu entdecken: Nur schemenhaft, oder wie eine Andeutung hinter dem kristallinen Raster erscheint gleichsam durch die flatternden Vogelsilhouetten hindurch ein zunächst rätselhaftes Motiv. Erst wird man eines fleischfarbenen Hintergrundes gewahr und dann kann man bei ganz genauem Hinsehen den Ausschnitt eines bekannten und zugleich ins Gerede gekommenen Bildes von Gustave Courbet entdecken. “Der Ursprung der Welt” aus dem Jahr 1866, das den dunklen Schoß einer Frau zwischen ihren gespreizten Schenkeln zeigt. Guiton referiert also nicht allein das Thema “Natur” oder “Wald mit Vogelstimmen”, sondern ein in unserer Kultur verankertes Bildmotive mitsamt seiner Metaphorik und Mehrdeutigkeit. Das klingt schon bei der Titelwahl Le Vol du Regard an, was in der französischen Sprache sowohl “Blickfang”, “Raub des Blickes”, als auch “Flug des Blickes” bedeuten kann. Der Betrachter wird zwar hier zum neugierigen Sehen verführt, doch wird er erst kraft seiner eigenen Entscheidung zum Voyeur. Dies wird ihm spätestens bewußt, wenn beim Blick durch das Loch die Vogelstimmen verstummen. Gutions Reverenz an Courbet, welche sich wegen der erwähnten kaleidoskopartigen Rasterung und Dopplung des Bildes eher verbirgt als offenbart, ist jedoch nicht der einzige Bezug dieser Arbeit zum Fundus der Kunstgeschichte. Zwischen den Jahren 1946 und 1966 entwickelte Marcel Duchamp die merkwürdige, hochkomplexe, bis heute nur wenig rezipierte Arbeit .”Étant donnés: 1. la chute d’eau, 2. le gaz d’éclairage”, welche sich im Philadelphia Museum of Art befindet und bei der eine ähnliche Grundsituation für den Betrachter gegeben ist. Zunächst betritt man eine Art Durchgangsraum, in dem nichts als ein stark verwittertes Holztor zu sehen ist. Schließlich entdeckt man darin in Kopfhöhe zwei kleine Löcher, welche “ wie könnte es anders sein - zum Durchsehen einladen. Auf diese Weise durch die eigene Neugierde zum Voyeur geworden, sieht man durch den verengten Blickwinkel einen Landschaftsausschnitt in der Art eines Dioramas. In dieser künstlichen Natur liegt offensichtlich eine unbekleidete Frau mit gespreizten Schenkeln den Gucklöchern direkt gegenüber. Vorwegnahme des Blickes in eine Pepe Show, zufällige Duplizität der Ereignisse und Entscheidungen - oder was sonst?

Was Duchamp schon wußte und Guiton heute als Reverenz wieder aufleben läßt, ist folgendes: Dem Akt des Voyeurs liegt eine spezifische Form der Selbsterregung zugrunde, für welche die Ferne und prinzipielle Unerreichbarkeit seines Objekts der Begierde eine notwendige Voraussetzung ist. Im Prinzip reichen ihm eine vage Andeutung und der eingeschränkte Blick durch ein Schlüsselloch schon aus. Es geht um Seh-Lust, welche immer gekoppelt ist an ein gewisses Vorstellungsvermögen, an eine sehnsüchtige Verlagerung eines fernen Bildes in den Kopf des Betrachters. Wenn man Voyeurismus im pathologischen Sinne eher als Verarmung zwischenmenschlicher Beziehungen ansehen könnte, geht es hier auf künstlerischer und zugleich diskursiver Ebene um die Bewusstmachung dieser Seh-Lust und des damit verbundenen Vorstellungsvermögens als autopoetische Energien. Künstlerisch gewendet gerät der Blick durch das Loch zwischen die Schenkel einer Frau also nicht einem armseligen onanistuschen Endpunkt, sondern vielmehr zu einem neuen Anfang der Betrachtung. Jemand, der in der Lage ist, seinen eigenen Anteil an der Wahrnehmung, seine Erwartungen, Projektionen, Interpretationen und Vorurteile als Bestandteile eben dieser Wahrnehmung mitzureflektieren, tut mehr, als nur libidinös zu registrieren, was sich faktisch vor ihm befindet. Der Zweifel an der Eingeschränktheit des eigenen voyeuristischen Blickes, das Bewußtwerden dieser auf einen Punkt fixierten Leidenschaft wird hier Bestandteil des Sehprozesses und führt zu einer Erweiterung der Einsichten und Erfahrungen, wie sie im gewöhnlichen Voyeurismus des Alltags praktisch nicht möglich sind. Guiton macht den Betrachter hier nicht zum Protagonisten einer an sich überflüssigen merkwürdigen Versuchsanordnung, sondern definiert ihn als ein souverän über seine Erfahrungen nachdenkendes Subjekt. Die “Interaktivität” dieser Arbeit, welche durch den Einsatz von Sensoren und computergestützten Bild- und Tonsystemen ermöglicht wird, ist somit nicht das Ziel, sondern lediglich der Weg oder die Methode dieser sich ansonsten in den Kopf des Betrachters verlagernden Rauminstallation.

Ein Denkbild besonderer Art ist auch die 1997 entstandene Arbeit Der Rattenfänger . Beim Betreten des abgedunkelten Raumes entdeckt man eine große Anzahl auf dem Boden liegender ovaler Lautsprecher, welche anscheinend in einem gewundenen Strom in eine Richtung streben. Man fühlt sich ein wenig an einen aus der Luftperspektive fotografierten Verkehrsstau auf der Autobahn erinnert. Die kleinen Teile sind mit dünnen Kabeln verbunden, welche ebenfalls die Richtung des gewundenen Wegverlaufs beschreiben. Was diese Kabelanschlüsse augenfällig machen, ist indessen schon beim Betreten des Raumes zu hören: Ein regelrechter Klangteppich aus dem Piepsen vieler kleiner Nagetiere, das permanente Trappeln tausender kleiner Pfoten und leise Schleifgeräusche. Die Assoziation “Ratten”! drängt sich eher schon intuitiv als im Sinne einer gedanklichen Folgerung auf. Diese permanente Klangkulisse erfüllt den ganzen Raum. Doch das ist noch nicht alles: Aus einem Bereich hinter einem Wandabschnitt, von dort, wohin dieser virtuelle Rattenstrom anscheinend hinstrebt, kommt ein dumpfes Grollen, ein wenig dem Vulkangeräusch von La Ronde ähnlich, aber noch überlagert von einem Fauchen und Gurgeln. Verfolgt man den Weg der Lautsprechermeute (es sind übrigens 100) und geht man dabei gleichzeitig seinem Gehör nach, macht man eine gemessen an der Virtualität ihrer Erscheinung einigermaßen grausige Entdeckung: Die technischen Ratten streben alle einer großen Videoprojektion zu, die auf den ersten Blick an einen ovalen oder Rhomboiden Schlund erinnert. Rhythmisch öffnet und schließt sich hier ein monströses Loch, dröhnt, dampft, zischt und scheint sich den Rattenstrom in pumpenden konvulsivischen Schluckbewegungen einzuverleiben.. 

Eine wabernde, kochende zu heftigen Eruptionen fähige Öffnung der Erde, ein bedrohlicher Höllenschlund. Auch drängt sich bald die Assoziation eines eher angst- als lustbesetzten weiblichen Geschlechts auf, einer spaltenartigen, sich ständig erweiternden und wieder verengenden, aber immer größer und bedrohlicher werdenden Vagina, welche im Freudschen Sinne als kastrierende (dentata) und im Sinne von Georges Devereux als angst- und lustbesetzte mythische Vulva empfunden werden kann. Wenn man so will, konfisziert Jean Francois Guiton hier wiederum in unserem kulturellen Fundus verankerte Vorstellungen. Er bezieht sich zudem intuitiv und zugleich überlegt auf das (deutsche) Märchen vom Rattenfänger von Hameln, wonach ein mysteriöser Fremder die Stadt von einer schlimmen Rattenplage befreite und schließlich, als man ihn dafür nicht entlohnen wollte, alle Kinder “ genau wie er es vorher mit den Ratten gemacht hatte “ mit dem Klang einer Flöte aus dem Ort lockte und in einer Höhle für immer verschwinden ließ.

Guiton illustriert indessen weder diese noch irgendeine andere Geschichte, seine Arbeit degradiert sich nicht zum effektvollen Szenario einer auch auf andere Weise erzähl- oder erfahrbaren Angelegenheit, sondern ist Grundlage und Stimulus einer besonderen, nur in dieser Form möglichen Erfahrung.

Die Tatsache, daß in seinen Arbeiten immer wieder uralte Topoi, Mythen, archaische Bilder, Symbole, Angst-, Lust- und Todesvisionen auftauchen, zeugt nicht etwa davon, daß er hier Versuche unternähme, vergangene, längst bedeutungslos gewordene oder vergessene mysteriöse Zeichen auszugraben und in anachronistischer Form zu reaktivieren, sondern eher das Gegenteil ist der Fall: Diese Zeichen und Bilder sind auch im Medienzeitalter gegenwärtig. Sie gehören seit einem Jahrtausenden tradierten, sich dabei permanent wandelnden Fundus, welche auch am Ende des 20. Jahrhunderts noch immer Bestand hat. So wie Guiton sie uns vorstellt, werden sie uns in ihrem Wesen als wandelbare, uminterpretierbare und für verschiedene Zwecke einsetzbare bewußt. Mythos funktioniert auch im Medienzeitalter wie eine “stille Post”: Bilder und Geschichten reichern sich mit unterwegs Aufgenommenen an, ändern sich dabei und sind bisweilen kaum noch wiederzukennen. Doch geht es Guiton als Mythenerzähler im Medienzeitalter nicht darum, im Rahmen einer sentimentalen Trauerarbeit medienbedingte Verluste zu beklagen, sondern es geht ihm um den souveränen gegenwärtigen Umgang mit dem noch immer vorhandenen Reichtum an Bildern, Vorstellungen und ihren sich gegenseitig überlagernden Bedeutungen. Das Spezifische einer solchen von ihm angestrebten Kunsterfahrung aber ist nicht durch Diskurse ersetzbar, ja es ist in der Lage, sich einer sprachlichen Erfassung erfolgreich zu widersetzen, es siedelt sich dort an, wo Sprache nicht mehr oder noch nicht zu greifen vermag. Und Jean-François Guiton ist davon überzeugt, daß Video ein geeignetes Mittel bzw. “Medium” dafür ist.