Rede zur Eröffnung der Ausstellung 

Jean-François Guiton: „Innenregen“

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Günter Minas  

Galerie der Stadt Mainz, Brückenturm,

am 22. November 2002

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Meine sehr verehrten Damen und Herrn,   

Was macht die Galerie so problematisch und gleichzeitig so reizvoll? Wenn man sie betreten hat, befindet man sich nicht mehr draußen, aber auch noch nicht richtig drinnen. Unter sich hat man noch das gleiche Straßenpflaster, nur nicht ganz so uneben und unkrautverwuchert wie vor der Tür. Dem mehrspurigen Verkehr der Rheinstraße ist man optisch auch noch nicht entkommen, und im Winter ist es fast so kalt wie draußen. Dennoch hat man zwei Glastüren hinter sich und ist mitten in einer Ausstellung. Aber erst nach der dritten Tür fühlt man sich wirklich in einem umschlossenen Raum, in einer Galerie mit weißen Wänden, Teppichboden, künstlichem Licht und einem Platz für die Aufsicht.

Für den, der es nicht weiß: Der äußere Raum war in der Tat ursprünglich ein offener Durchgang zur Straße und wurde erst später durch Glaswände geschlossen. Dieses merkwürdige Verhältnis der beiden Hälften unserer Galerie hat die ausstellenden Künstler immer schon beschäftigt, und selbst konventionelle oder sagen wir klassische Maler und Zeichner versuchen, wenn sie die für den Beruf erforderliche visuelle Sensibilität haben, die Präsentation ihrer Arbeiten organisch den Raumverhältnissen anzupassen.

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Mehr und mehr aber machen wir aus der komplexen Raumsituation eine Tugend, und die stärksten Ausstellungen der letzten Zeit waren immer die maßgeschneiderten. Ich erinnere z. B. an Jerry Zeniuk, Hannelore Landrock-Schuhmann oder Blumenfeld und Tillinghast. Was von der früheren Architektur geerbt wurde, war die gläserne Wand, die das Drinnen und Draußen ineinander übergehen lässt, gleichzeitig Trennung und Verbindung ist, Durchblicke schafft und den äußeren Raum noch einmal als eine Art Zwischenreich betont.

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Für die Kunst Jean-François Guitons ist die Gestalt eines Raumes existenzielle und prägende Bedingung. Seine Installationen antworten auf Räume, schmiegen sich ihnen an, stellen sie in Frage, und sie reagieren dabei nicht nur auf die materiell-architektonische Oberfläche, sondern greifen auch ihre Anmutung auf, den emotionalen Gehalt einer Architektur oder auch ihre historische Konnotation. Kaum eine der Arbeiten wurde mehrfach an verschiedenen Orten gezeigt, und wenn doch, so immer in spezifischen Varianten.

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Verständlich, dass der Weg von der ersten Idee bis zur Realisierung lang ist. Und der Künstler war im Laufe von mehreren Monaten öfter hier, um zu messen, zu planen und zu probieren. Auch wenn das Ergebnis elementar einfach erscheint: Der konzeptionelle Aufwand für diese Art von Kunst ist erheblich, und er steht in keinem Verhältnis zu einer möglichen kommerziellen Verwertbarkeit des Werks, denn – und ich sage das bewusst zugespitzt – es ist „nur ein Bild“, ein klingendes Bild. Ein Bild zudem, das aufhört, zu existieren, wenn die Geräte abgeschaltet werden.

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Wir hatten, denke ich, noch nie eine derart reduzierte und konzentrierte Ausstellung in dieser Galerie. Kein Werk an der Wand, kein Werk auf dem Boden, zwei leere Räume, die aber erfüllt werden von einem Bild und einem Klang.

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DAS BILD wird erzeugt auf jener durchsichtigen Zwischenwand, die so charakteristisch für diesen Raum ist, aber selbst fast nie zum Bildträger wird, sondern immer nur den Blick von draußen nach drinnen und von innen nach außen ermöglicht und betont. Für diese Ausstellung fängt sich auf ihr das vom Künstler entworfene Bild, und es scheint ungreifbar auf ihr zu schweben, denn es ist von zwei Seiten aus zu erleben.

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Es zeigt sich an dieser Arbeit exemplarisch die Sparsamkeit der Mittel, die Jean-François Guiton einsetzt. Videokunst, das älteste unter den sogenannten „Neuen Medien“, heißt bei ihm nicht ein Überfluss von Spezialeffekten, demonstriert durch eine technische Leistungsschau, sondern gerade das Gegenteil: Gerade so viel Technik, wie erforderlich ist, um DAS BILD entstehen zu lassen. Kein buntes, schnelles, ständig sich verwandelndes Bild auch, sondern ein ruhiges, viele sagen: ein meditatives Bild.

DAS BILD in seiner Überdimensionalität – zweifellos das größte Bild, das Sie in dieser Galerie bisher gesehen haben – und in seiner Präsenz und Konzentration ist insofern monumental. Aber es erschlägt uns nicht, es schüchtert nicht ein. Denn wir sind mit einem zwar vielfach vergrößerten, aber uns allen bekannten, alltäglichen und eher intimen Phänomen konfrontiert: dem Herabrinnen von Regentropfen auf einer Scheibe. Die Videoaufnahme ist unspektakulär – aber beileibe nicht beliebig – und nur dem aufmerksamen Betrachter wird auffallen, dass es zwei einander überlagernde Bildschichten sind. Wenn sich nämlich zwei Tropfen begegnen, verlaufen sie nicht ineinander, sondern scheinen übereinander weg zu laufen.

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Die Scheibe, eine Fensterscheibe, ist in diesem Fall tatsächlich eine Glasscheibe. Es wird also ein Stück Realität scheinbar auf seine eigene Oberfläche projiziert. Ein Verfahren, das sich auch in anderen Arbeiten von Guiton wiederfindet.

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Das beobachtete und hier romantisch überhöhte Phänomen ist zwar alltäglich, aber im Detail sehr komplex. Physikalisch durch bekannte Gesetze determiniert – Schwerkraft, Adhäsion, Kohäsion, Oberflächenspannung, Abstoßung von Fett und Wasser und ähnliches – läuft es völlig unvorhersehbar ab, der Verlauf der Tropfen erscheint chaotisch und zufällig. ...was dem Vorgang eine magnetische Attraktivität verleiht, wie etwa auch ein Kaminfeuer

Diese „Regentropfen, die an dein Fenster klopfen“, können uns fesseln und in merkwürdige Stimmungen versetzen, die irgendwo zwischen Kontemplation und Melancholie liegen. Warum eigentlich? Auch darüber kann jeder einzelne meditieren. Ich sprach bisher immer von DEM BILD, aber damit meine ich natürlich die gesamte Gestalt dieser Installation. Zu ihr gehört notwendig der Ton, der nicht etwa in eben jenem leisen Klopfen von Regen auf die Fensterscheibe besteht, sondern von deutlich größeren Wassermengen kündet. Mit den Sanierungsmaßnahmen an diesem Gebäude hat er übrigens nichts zu tun.

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Er klingt nach einer keineswegs intimen Situation, sondern verführt uns imaginär in größere Räume. Da starren wir plötzlich nicht mehr in einsamer Nacht bei leichtem Regen auf die dunkle Fensterscheibe, und die Tropfen werden uns Tränen, sondern leicht beunruhigt drängt es uns, nach den Wasserrohren zu schauen und Rheinanwohner denken an ihren Keller. Der Innenregen spielt sich womöglich nicht nur im seelischen Innern ab. Wasser ist für Jean-François Guiton eines der Grundelemente, die er in seinen Installationen anspricht. In anderen Arbeiten gibt es Feuer und Luft, und immer geht es auch um elementare physikalische Phänomene und Erfahrungen: Gewicht, Spannung, Bewegung, Dunkelheit und Licht.

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Überhaupt Bewegung: Auch dieses Moment scheint nicht angesprochen zu sein, wenn man ein Wort wie DAS BILD benutzt. Dieses Bild bewegt sich, besser: Bewegung ist im Bild, aber eine unaufhörliche, ohne Anfang und Ende, und insofern ist das Bild doch wieder statisch, hat eine Doppelnatur, wie sie ein strukturelles Merkmal von Videoinstallationen im engeren Sinne ist. Und das hat zur Folge, dass uns vom Werk nicht vorgeschrieben wird, wie lange wir es betrachten. Es können Sekunden, Minuten oder Stunden sein. Und ich bin sicher, die Verweildauer der Besucher in der Ausstellung wird sehr unterschiedlich sein. 

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Genau dieses Moment wurde übrigens auf der letzten documenta in vielen Videoinstallationen übersehen. Dort zeigte man Filme, d.h. Werke mit vorgeprägter dramaturgischer Struktur, so wie man Bilder präsentiert, zum Hinein- und Vorbeischlendern, denn anders kann man keine Ausstellung machen, wenn sie nicht Kino sein soll. Vom Verkündigungsanspruch ganz zu schweigen. Umgekehrt wäre es nicht möglich, „Innenregen“ in einem Kino zu zeigen.

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Jean-François Guiton aber gelingt es, eine Spannung aufzubauen zwischen einer zunächst fast minimalistischen, konzeptionellen Anmutung und einem narrativen, literarischen, teils mythischen Gehalt, wie geschrieben wurde, und ich würde „lyrisch“ ergänzen. Die Arbeiten von Guiton sind ganz sinnlich, emotional und in ihrer reizvollen Oberfläche zu genießen, aber können ebenso ästhetisch-analytisch, d. h. theoretisch untersucht werden.

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Den Raumbezug haben wir schon aufgezeigt. Ein wichtiger Aspekt ist noch zu ergänzen. Zur souveränen Unaufdringlichkeit der Arbeit gehört auch, dass sie ihre Natur als elektronisches Bild nicht verleugnet. Wir staunen zwar voller Faszination über ein überraschendes visuelles Erlebnis, aber nichts wird vor uns geheim gehalten. Die Geräte verstecken sich nicht, DAS BILD löst sich beim Näherkommen in Rasterpunkte auf, die Herkunft von Bild und Ton ist erkennbar.Damit aber kommentiert sich die Arbeit auch wiederum selbst, verweist auf ihre Machart, hat metasprachlichen Charakter. Ein weites Feld für kunsttheoretische Dispute tut sich auf.

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Günter Minas