Le temps d’un portrait

Miriam Moch

aus dem Katalog Jean-François Guiton, Hinters Licht, Videoarbeiten 1982 – 2008




Was uns in der Videoarbeit Le temps d’un portrait aus dunklen Augenhöhlen anstarrt, ist ein Totenkopf, der paradoxerweise jedoch gar nicht wirklich existiert. Denn die vier Bildausschnitte, aus denen sich das Porträt zusammensetzt, zeigen vier unterschiedliche Totenschädel, die, pulsierend, als seien sie nicht aus harter Knochenmasse, sondern ein autonom agierender Organismus, sich niemals zu einem einheitlichen Gesamtbild zusammensetzen wollen oder vermögen. Dennoch entsteht in unserem Kopf dieses Porträt, Sinnbild des Todes und der eigenen Endlichkeit. Guitons Spiel mit dem menschlichen Bedürfnis nach Kausalität, Ordnung und Struktur wird in dieser Arbeit besonders deutlich, denn zynischerweise ist es eben dieses Bedürfnis nach einer wohl geordneten Welt, das uns in den Bildfragmenten das Memento mori, unsere eigene Endlichkeit, erkennen lässt. Indem er ein changierendes, in sich brüchiges Totenkopfporträt erschafft, dessen inhärente Dynamik wir nicht durchschauen, regt er nicht nur unsere Vorstellungskraft an, sondern beraubt uns unserer Sicherheit, die Symbole wie der Totenkopf uns angesichts der Unvorstellbarkeit des Todes geben. Denn dort, wo die menschliche Vorstellungskraft versagt, wie bei dem Gedanken, nicht zu sein, treten an seine Stelle Symbole und Metaphern, die das Unvorstellbare greifbar machen sollen, indem sie es auf grundlegende Elemente wie körperlichen Zerfall oder die Endlichkeit des Lebens reduzieren. Guiton widersetzt sich in seiner Arbeit dieser Symbolik, indem er sie auflöst in changierende Einzelteile, die nur ein in sich brüchiges Porträt ergeben ähnlich dem Blick in einen zerschlagenen Spiegel. Statt unseres vertrauten Spiegelbildes ist es jedoch die bruchstückhafte Vorstellung unserer eigenen Endlichkeit, die uns aus den Bildschirmen entgegenblickt. Der stetige Wandel, dem die Bildausschnitte unterliegen und der sich ohne erkennbare Struktur vollzieht, steht überdies dem unserer Kultur zugrunde liegenden Zeitverständnis entgegen, das Zeit als linear und kontinuierlich begreift, und offenbart dem Betrachter so eine von Diskontinuität und fehlender Ordnung geprägte Welt.

Le temps d’un portrait


Miriam Moch

translation: Rebecca Van Dyck

from the catalog Jean-François Guiton, Hinters Licht, Videoarbeiten 1982 – 2008


What is staring at us through dark eye sockets in the work Le temps d’un portrait is a skull, which, however, paradoxically does not really exist. For the four sections that make up the portrait present different, pulsating skulls, as if they were not made of hard bone mass but are autonomously operating organisms that do not want to, or will never be able to, combine to form a uniform overall image. Yet this portrait is produced in our minds, a symbol of death and our own impermanence. Guiton’s play on the human need for causality, order, and structure becomes particularly evident in this work, because cynically, it is precisely this need for an ordered world that allows us to recognize our own finiteness in the fragments of this memento mori. By creating a changing, fl awed portrait of a skull, whose inherent dynamism we cannot see through, the artist not only stimulates our power of imagination, he also robs us of the security that symbols such as the skull give us in view of the inconceivability of death. For where the human power of imagination fails, such as when trying to imagine that one does not exist, symbols and metaphors take its place that are meant to make the inconceivable palpable by reducing it to fundamental elements such as physical decay or the impermanence of life. In this work, Guiton resists this symbolism by breaking it up into changing individual parts that result in only a flawed portrait, such as when one looks into a broken mirror. However, instead of seeing our familiar mirror image, what looks back at us from the screens is the fragmented concept of our own finiteness. Moreover, the constant change the images are subject to and which occurs without a discernible structure is contrary to the understanding of time that prevails in our culture— because we comprehend time as linear and continuous, this change reveals to the viewer a world marked by discontinuity and a lack of order.