Im Walde

 

 

Peter Friese

in Katalog Jean-François Guiton, Hinters Licht, Videoarbeiten 1982 – 2008.

 

 

 

Diese raumfüllende interaktive Videoarbeit greift eine aus verschiedenen Quellen überlieferte Vorstellung von Natur noch einmal bildhaft und höchst eindrücklich auf. Demnach wäre die Welt wie ein lebendiger Organismus zu denken, als Gegenüber, dem man nicht wie einem unbelebten Objekt gegenübertritt, sondern wie einem organischen Lebewesen, welches in der Lage ist, eine Eigendynamik zu entwickeln und auf uns zu reagieren. Die Erde als belebten Körper zu denken, ist keineswegs eine rein esoterische, animistische oder vorwiegend „gestrige“ Angelegenheit, gibt es doch analoge Vorstellungen und Diskurse auch heute noch in der Literatur, im Film, aber auch in der sich selbst als naturwissenschaftlich verstehenden „Gaia-Hypothese“. Goethe, der bei seiner Alpenüberquerung angesichts eines unter ihm sich ausbreiten- den Bergmassivs einen lebenden Organismus assoziierte, gehört zu den Vor- und Nachdenkern dieser Idee. Und in Stanis?aw Lems visionärem Roman Solaris, welcher von Andrej Tarkowski von der Vorlage abweichend, aber dennoch kongenial verfilmt wurde, sind es schließlich ein ganzer Planet und der ihn bedeckende Ozean, welche übernatürliche, die Menschen überragende und formende Fähigkeiten entwickeln können. Im Bewusstsein, dass er hier bereits existierendes Terrain betritt, entwirft Jean-François Guiton ein aus sich selbst heraus gültiges, den Betrachter nicht nur optisch, sondern auch körperlich in Bann ziehendes bildhaftes Szenario. Man sieht sich einem dichten Geflecht von dicken, massiv wirkenden Wurzeln gegenüber, welche zwei aneinandergrenzende Wände vom Boden bis zur Decke füllen. Diese scheinbar endlos und schlangenartig ineinander verwobenen Formen bilden eine Art zusammengewachsene Textur. Begibt man sich in den Raum, beginnen diese Wände tatsächlich zu reagieren. Das als starres Wurzel- und Holzmassiv zu denkende Gegenüber fängt auf einmal an, sich konvulsivisch zu bewegen, sich dabei unter vernehmbaren Knarren optisch von der Wand zu lösen, zu pulsieren und anscheinend zu atmen. Es sieht so aus, als wollten die riesigen Wurzelgeflechte sich dem Betrachter nähern, ihn tangieren oder gar umschlingen. In der Tat ein mythisches, für manche Besucher gar albtraumartiges Bild, welches kollektive Gedächtnisbilder aktiviert und in dieser Videoarbeit sehr sinnlich erfahren werden kann.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Walde

 

 

Peter Friese

in catalog Jean-François Guiton, Hinters Licht, Videoarbeiten 1982 – 2008.

 

 

This space-consuming interactive work on video once again takes up a concept of nature that has been passed down from various sources and presents it in a pictographic and highly impressive way. According to this concept, the world is a living organism, a counterpart that one does not confront as if it were an inanimate object, but rather as an organic life form that is in a position to develop momentum and to be responsive to us. Conceiving of the earth as an animated body is in no way a purely esoteric, animistic matter of “yesteryear”— even today, there are analog concepts and discourses in literature, fi lm, or in the “Gaia hypothesis,” which considers itself to be based in science. Goethe, who in the face of a broadening mountain formation during his crossing of the Alps associated it with a living organism, is one of the mentors and cogitators of this idea. And in Stanislaw Lem’s visionary novel Solaris, which Andrei Tarkovsky, albeit deviating from the original, ingeniously turned into a movie, it is ultimately an entire planet and the ocean that covers it that are capable of developing supernatural, formative capabilities that outperform those of human beings. In the awareness that he is treading existing terrain, Jean-François Guiton creates a valid pictorial scenario that arises from itself and captivates the viewer not only visually, but physically as well. One sees oneself con- fronted by a dense mesh of thick, compact roots that fill two conjoined walls from the floor to the ceiling. These apparently endless and snake-like, interwoven spaces create a kind of coalesced texture. When one enters the space, these walls actually begin to react. The counterpart, which is to be imagined as solid roots and wood, suddenly begins to move convulsively—audibly creaking, it visually loosens itself from the wall, pulsates, and seems to breathe. It looks as though the enormous network of roots want to approach the viewer, affect or even entangle him or her. Indeed, a mythical, for one or the other viewer even a nightmarish image that activates collective mnemonic images and can be very sensually experienced in this work on video.

 

Translation: Rebecca Van Dyck