In abstracto
Antonia Birnbaum
in catalogue Jean-François Guiton - Hinters Licht – Videoarbeiten 1982-2008, Weserburg - Museum für Modern Kunst, Bremen 2008
Obwohl Jean-Francois Guitons akustische und visuelle Installationen narrative Elemente, Charaktere, Szenen und identifizierbare Geräusche präsentieren — kurz gesagt: durch Repräsentationen führen —, bewirken sie eine starke Abstraktionskraft. Sie trennen Visuelles und Akustisches, machen wiederholte Formbewegungen, nicht existente Räume und Oberflächeneffekte sichtbar. Diese Spannung ist umso stärker, als dass in den Werken die Abstraktionskraft von den mimetischen Bestandteilen, die sie stört, untrennbar zu sein scheint. Ihre Effekte entsprechen weder einem formalen ästhetischen Programm, noch einer Aufhebung der Selbstverständlichkeit von sinnlicher Erkenntnis. Wie also kann man deren singuläre Dynamik fassen?
Philosophisch betrachtet, beschreibt Abstraktion die Realität von Entitäten ohne zeitlich-räumliche Eigenschaften, an erster Stelle diejenigen der Mathematik — Zahlen, Mengen, Beziehungen, geometrische Figuren —, dann diejenigen der platonischen Ideen. Abstrakte Kunst umschreibt heute ein weites Feld des Experimentierens, aber ihre moderne Erfindung wiederholt diverse Züge ihrer philosophischen Bestimmung. Sie ist aus einem Bruch mit dem Gemeinsinn des Sichtbaren entstanden, mit unserer Fähigkeit, Dinge, die uns umgeben, wieder zu erkennen und nachzubilden. Allerdings ist dieser Bruch bereits in seiner anfänglichen Geste vieldeutig, bringt mehrere Logiken zum Tragen. Bei der Geburt der Abstraktion können zwei gleichzeitige Tendenzen unterschieden werden. Die eine führt Wirklichkeit auf geometrische Figuren zurück. In ihnen und durch sie wird der wesentliche Kern des Wahrnehmbaren aufgedeckt, die Sichtbarkeit der Welt unter ihrem mathematischen Aspekt freigesetzt. Die andere Tendenz spitzt die Abkehr von der Nachahmung weiter zu, radikalisiert sie durch eine komplette Trennung, die nach einer unsichtbaren Dimension strebt. In einer Abkehr von der gewöhnlichen Welt führt das Kunstwerk auf die Intelligibilität eines reinen Gefühls zurück 1.
Jean-François Guitons Arbeit weicht von diesen Variationen der klassischen Abstraktion ab. Anstatt Intelligibilität und Nachahmung logisch entgegenzusetzen, anstatt das Wahrnehmbare auf seine geometrische Form zurückzuführen, produzieren seine Werke eine reale Entgegensetzung zwischen Abstraktion und Nachahmung innerhalb des Gemeinsinns. Seine Werke trennen alle Prozesse des Wiedererkennens voneinander: die Identität von Sehen und Verstehen, Betrachten und Zuhören, von zeitlicher und narrativer Verkettung 2. Durch eine Art seltsame negative Aufmerksamkeit isoliert die Kraft der Abstraktion die sinnlichen Elemente, löst sie voneinander, sprengt den vereinenden und regelmäßigen Sinnprozess. Eben diese Elemente, die normalerweise einer Logik des Identifizierens unterworfen sind, finden sich bei ihm „individualisiert“, sind aus ihrer Regelmäßigkeit entrissen, streben auseinander und verwandeln sich in Gegensätze.
Daher eine erste Feststellung: Die Abstraktionskraft ist hier nicht das Andere des Sinnlichen, sondern die Kraft, die jedes Element, jede wahrnehmbare Form von der synthetisierenden Kohärenz des Sinns trennt. Sie ist die Kraft, die Gegensätze bewirkt, indem sie die Elemente mit ihrer Äußerlichkeit konfrontiert, einer Äußerlichkeit zwischen Sichtbarem und Akustischem, Wahrnehmung und Interpretation, Bewegung und Bewegungslosigkeit. Die Abstraktion wendet sich weder vom Gemeinsinn ab, noch rekonstruiert sie ihn unter der Vorherrschaft der Mathematik; sie erzeugt sein „Entgleisen“, zeitigt seine vielfältigen Divergenzen.
Eine zweite Feststellung drängt sich auf. Zugang zu diesen Installationen finden bedeutet, Zugang zu den Abständen und den Trennungen zu finden, die in ihre Verhältnisse eingeschrieben sind. Es wird sowohl der Blick als auch das Zuhören und die Bewegungen des Betrachters durch diese Gleichzeitigkeit der Gegensätze angesprochen. Seine Aufmerksamkeit wird nicht auf ein Außerhalb der Installationen gelenkt, sondern ist selbst die „Kraft des Draußen“, die deren Differenzen freisetzt, sie vergegenwärtigt.
Die offenkundigste Trennung, die zuerst auffällt, ist die des Sichtbaren und des Akustischen, die praktisch alle Werke charakterisiert. Aber dieser Bruch erzeugt keinen dichotomischen Widerspruch zwischen Hören und Sehen, ganz im Gegenteil: Er drückt sie auseinander. So drängt die gemeinsame trennende Grenze jeden Prozess des Sehens und Hörens, Lesens und Entzifferns, des Wahrnehmens und Fühlens bis zu seiner jeweils eigenen Extremität, bis hin in ein neues Gebiet. Das Narrative kann sich als akustisches Element verbildlichen, die Empfindung schlägt in Entzifferung um, das Bild macht eine Stille hörbar. Indem die Abstraktionskraft unsere Sinne trennt, löst sie ihr gemeinsames Funktionieren auf; sie zwingt uns, singuläre Kombinationen zu entwerfen, die Heterogenes wahrnehmen und artikulieren. Die Variationen dieser Abstraktionskraft können also nur im Durchdringen der Werke sowie in ihrer „unsinnlichen Ähnlichkeiten“ zum Vorschein kommen — durch Störungen des Narrativen, der Oberfläche, des Ernstes.
Le Fardeau nimmt eine Sonderstellung in Jean-François Guitons Werk ein. Geräuschlos mildert es den ernsteren Ton des Ganzen ab. Scharfsinnig, mit eleganter Einfachheit, suggeriert diese Installation sofort eine Annäherung an den Minimalismus. Ein großes Leinentuch, in der Mitte beschwert mit einem darauf ruhenden Monitor, breitet sich, einer Hängematte gleich, in einem Lichtschacht aus. Die Rückseite des Apparates zeichnet sich klar durch den Stoff ab. Auf den ersten Blick scheint die Ökonomie der Mittel mit der künstlerischen Ökonomie übereinzustimmen: what you see is what you see. Wie aber kann man darüber hinaus den nachahmenden Effekt nicht bemerken, und vor allem daran kein Vergnügen finden? Die minimalistische Anordnung erzeugt eine absurde Ähnlichkeit: ein faulenzender Monitor in einer Hängematte. Müde von seiner Reduzierung auf Literalität entspannt er sich ein wenig von seiner Existenz als specific object. Als wäre sein Müßiggang nicht genug, verstellt er mit seiner Anwesenheit im Schacht auch noch jene Falltür, durch die übergroße Werke ins Museum hinein- oder herausgebracht werden. Während er sein arbeitsames und vertikales Dasein als Bildträger vernachlässigt, zeigt die Oberfläche des Bildschirms eine Bewegung des Leintuchs, auf dem er liegt: Man hört förmlich das Tuch gegen den Wind schlagen. Kontemplation, white noise, Tautologie — es ist unklar geworden, ob sich das Bild an uns richtet oder ob sich der Monitor in den Himmel projiziert. Der mimetische Reiz dieses Werkes liegt darin, dass er das minimalistische Vorurteil der Ernsthaftigkeit von Kunst entschärft. Vertauschung des Konkreten mit dem Abstrakten, von Minus und Plus. Indem sie das asketische Ideal vom Minimalismus subtrahiert, setzt die Installation eine humoristische Schwingung frei 3.
In einigen Installationen von Jean-François Guiton ist die mimetische Dimension direkt an eine narrative Dimension gebunden, indem sie auf allgemein bekannten Erzählungen basieren. Pour Dulcinée 3 zum Beispiel bezieht sich auf eine berühmte Szene des ersten modernen Romans, Don Quichotte, und Der Rattenfänger auf eine musikalische Entführungsgeschichte, die in ein Kindermärchen verwandelt wurde. Man braucht Don Quichotte oder Den Rattenfänger von Hameln gar nicht gelesen zu haben, um diese sofort zu „erkennen“. Diese Erzählungen sind moderne Mythen: Nicht wir lesen sie, sie bilden aber durch ihre wiederholte Präsenz einen Gemeinplatz. Um welche Art Wiederholung handelt es sich? Obwohl nur wenige sie gelesen haben, kann fast jeder damit Namen, Szenen, Hauptcharaktere, Attribute, irreale Situationen und magische Verzauberung verknüpfen. Die Erzählungen braucht man nicht gelesen zu haben, um sie wiederzuerkennen, narrative Bilder werden ohnehin mit ihren Namen assoziiert.
Gerade diese Ähnlichkeit steht am Anfang beider folgenden Installationen. Pour Dulcinée 3: Hier stehen sich ein Monitor und eine Wandecke gegenüber; das Bild dieses Monitors und ein zweites Bild, das direkt in diese Ecke projiziert wird und das Schlagen von Windmühlenflügeln zeigt. Auf der Fläche des Bildes sieht man die Fläche des Tuches, es faltet und entfaltet sich in dieser Falte des Realen, die die Wandecke bildet. Auch der Kampf spielt sich in einer Falte ab, nämlich im Wechsel unserer Aufmerksamkeit von einem Bild zum nächsten. Zunächst sieht man eine Flügelbewegung auf der Wand — monotone Wiederholung eines Motivs —, dann wendet man sich zum Monitor, auf dem Hände eine Lanze drehen. Das Bild, das sich in uns zusammenfügt, resultiert nicht aus dem Vergleich mit dem narrativen Bild, sondern aus dem Wechselspiel unseres Blickes — körperliches „Flackern “, das alle Elemente der Installation miteinander verbindet. Die mimetischen Bestandteile, die Windmühle und die Lanze des Don Quichotte, erscheinen überdimensioniert, die Installation zeigt sie am Rande der Erkennbarkeit, abstrahiert die narrative Verkettung, gliedert das Bild durch das „Hin und Her“ sich jeweils ausschließender Wahrnehmungen.
Im Rattenfänger entsteht die Ähnlichkeit durch akustische Nachahmung. Mehrere Lautsprecher stehen auf dem Boden, verbunden durch Kabel — kleine ovale Schachteln, die an einer Ecke abgerundet sind, alle einer Richtung entgegenstrebend. Von Anfang an hört der Betrachter Piepsen, Pfotengeräusche und hastiges Getrappel. Hier „sieht man nicht mehr, was es meint“: Was man hört ist, was man sieht. Dieses Rudel von Lautsprechern stellt eine unteilbare Menge von Nagetieren dar. Sie geht auf ein anderes Geräusch zu, wird unerbittlich von dem Schlucken eines gewaltigen roten Spaltes angezogen, der von einer Videoprojektion ausströmt: Eine riesige Vulva, bereit, alles in ihrem unterirdischen Grollen zu verschlingen. Die musikalische Betörung — von ihrer Verführungskraft beraubt — ist in einem räumlichen Gegensatz zwischen den Tiergeräuschen und dem Gurgeln aus der tektonischen Tiefe begriffen. Ihn erfährt man als Abstand, indem man die Distanz überwindet, die beide Geräusche trennt. Das Bild des Flötenspielers verlautet als Bild, es zerstreut sich in seinen akustischen Effekten.
Wenn wir einen dunklen Wald durchqueren, spüren wir manchmal, wie unsere Fähigkeit, Wahrnehmungen und Gefühle zu unterscheiden, zusammenbricht: Jedes Geräusch, jede Astbewegung, jeder Schatten vergrößert das undeutliche Ausmaß unserer eigenen Angst: Im Walde. Die Projektion reicht vom Boden bis zur Decke, überspannt damit eine Ecke des Raumes und hebt so die frontale Konfrontation mit dem Bild auf. Es ist ein Durcheinander von Wurzeln und Stämmen, eine bewegte und unbewegte Spannung. Beinahe zieht sich das Bild zurück, stockt, rückt weiter vor. Die Bewegung prägt sich aus, verstärkt sich, sobald wir den Raum betreten: Der Wald reagiert auf unsere Anwesenheit. Augenblicklich streckt eine Wurzel sich bedrohlich aus, gleich danach sinkt ängstlich ein Ast herunter. Je mehr Menschen sich im Raum befinden, desto dunkler wird der Wald, als brächte die Zunahme menschlicher Anwesenheit seinen Rückzug mit sich. Das Ineinandergreifen von Nah und Fern trennt den Affekt vom Betrachter ab und projiziert ihn auf die ganze Fläche: Der Wald selbst fürchtet sich, der Wald selbst greift uns an. Dieser Affekt ist unentwirrbar, kennt keinen Unterschied zwischen Menschlichem und Unmenschlichem.
Gestörte und erkennbare Nachahmung überschneiden sich, zerrinnen, geraten auseinander —werden in Gegensätze verwandelt. Ihr immanentes Durcheinander durchdringt Technik, Materie und Intelligibilität. Jenseits aller inneren Spiritualität, jenseits aller Geometrie pulsiert in diesen Gesten der Abstraktion die „Seele der Welt“.
Antonia Birnbaum
Toulouse, August 2008
(1) Die russischen Avantgarden hoben besonders die geometrische Konnotation der Abstraktion hervor; sie stürzen die Vernunft des Sichtbaren, um sie in einem neuen Sinn einzubringen, zum Beispiel in die vom Konstruktivismus erfundenen Funktionalitäten und Utopien. Kandinsky widmet sein Werk einer inneren Suche, in dem er die Kunst allein zu sich selbst zurückführt, indem er seine Arbeit außerhalb der alltäglichen Welt ansiedelt, seine Abstraktion der Farben und Formen zielt darauf die menschliche Seele mit ihrer Spiritualität in Verbindung zu bringen.
(2) Einer sich widersprechenden Gegenüberstellung entsprechend kann eine Sache sich nicht gleichzeitig in Bewegung und im Ruhezustand befinden, diese zwei Prädikate können nicht zur gleichen Zeit für dieselbe Sache benutzt werden. Aber in einer realen Gegenüberstellung, wenn der Westwind genau der Stärke des Ostwindes entspricht, wird eine Sache (ein Schiff) unbeweglich und diese Unbeweglichkeit resultiert aus der Bewegung, man kann sogar sagen, dass dies ihre Funktion ist. Hierzu vergleichen Sie bitte „Essai pour introduire le concept de grandeur négative den philosophie“ (Abhandlung zur Einführung des Konzepts der negativen Größe in der Philosophie) von Immanuel Kant.
(3) Le Fardeau verdichtet Worte wie less is more zu what you see is what you see, bis hin zu less is less, more is more, that’s all aus der „Présence Panchounette“ mit sanftem Humor.